Hell und klar umrissen steht der Sockel da, ein wenig provokant im Gegensatz zu dem so heimelig verschnörkelten Siegestor. Der „Sockel der Neuzeit“ nennt sich die weiße Skulptur und will – wie der Triumphbogen damals – auf Zukünftiges verweisen. Damals und heute, Erinnerung und Mahnmal, Verweis auf tiefer schürfende Fragen.
Wie auf dem Volksfest geht es zu. Lachen, Klatschen, Musik, Stimmen und junge Leute mit Flaschen in der Hand bilden einen Geräuschpegel der ungewohnt ist für das sonst so stille große Haus. Noch dazu freitagnachmittags, wo doch für die meisten möglichen Lärmverursacher schon das Wochenende begonnen hat. Heute ist alles anders. Von der Hippiemama mit ihren Kindern bis zum Herrn mit Gelfrisur und hochgestelltem Polokragen, tummeln sich hier Kunstinteressierte jeder Couleur. Denn die Jahresausstellung der Akademie der Bildenden Künste ist eröffnet. Wie jedes Jahr erhalten die Studierenden wieder die Möglichkeit, ihre aktuellen Arbeiten der Öffentlichkeit vorzustellen und einen Blick hinter die Kulissen zu gewähren. Oder auch, um neue Ideen auf ihre Tauglichkeit zu testen.
Und die Leute sind erst mal beeindruckt
Sofort stellen sich Fragen, schon ist man mitten drin: Überraschendes, Skurriles, Außergewöhnliches. Jeder Besucher stutzt, reißt die Augen auf, staunt. Sowohl an Ideen, Material und Ausführung als auch an Präsentationstechniken versuchen sich die Kunststudenten zu übertreffen – von Raum zu Raum. Zu sehen gibt es Licht-, Video- und Klanginstallationen, Live-Performances, aber auch Fotografie, klassische Malerei und Skulpturen aus Holz, Stein, Gips und Materialien, von deren Existenz man bisher noch gar nichts wusste. Das Spektrum der Darstellungen reicht von gruselig bis witzig, von politisch bis philosophisch. Der Bindfaden wird zum verstrickenden Netz, die Glühbirne zur Liebeserklärung, die frisch geweißelte Wand zur Projektionsfläche schwarzer Zukunftsvisionen. Der Körper und der Raum, Emotionen, der Sinn und die Möglichkeiten des alltäglichen Lebens sowie dessen Reflexion durch den Menschen sind nach wie vor die bestimmenden Fragen, denen sich die jungen Künstler stellen. Viel, viel Zeit sollte man mitbringen, um dem gebührend nachgehen zu können.
Der Alltag in neuem Licht
In der dargestellten Vielfältigkeit, überbordenden Experimentierfreude und der nicht mehr wegzudenkenden Multimedialität steht auch über allem das große Wort: Was ist Kunst heute? Oder, bescheidener ausgedrückt: Was offenbaren uns die Münchener Kunststudenten insgesamt?
Es fällt auf, dass Kunst hier unbequem ist, aufgeladen. Der Anspruch des rein Ästhetischen zählt nicht mehr. Das nur einfach schöne, in seiner Schönheit aussagekräftige Bild gibt es kaum noch. Die wenigsten Werke kann man sich im heimischen Wohnzimmer oder an der eigenen Schlafzimmerwand vorstellen. Man will es auch nicht mehr. Am schnellsten spazieren die Leute an den „nur“ gemalten Bildern vorbei: Langweilig. Kunst muss heute aufregend, erregend, öffentlichkeitswirksam sein, für das Privathaus wird sie nicht geschaffen. Sie ist Event. Shocking. Ein spannendes Show-Spektakel mit Hochs und Tiefs.
Nichtsdestotrotz sind die Studenten auch auf die Wohlfühlatmosphäre bedacht. Für zur Genüge Beunruhigte gibt es an Ständen Bier und Cocktails zu kaufen oder Knabbereien zu naschen. Ein Raum ist mit einem weich federnden Teppichbodenmosaik ausgelegt. Buntgetupft sitzen, stehen und gehen die Menschen im Schein der Beleuchtung: In den weitläufigen Gängen mit den hohen Türen vermischt sich die Leistungsschau an sich zu einem großen, bewegten Bild. In dem wimmelnden Durcheinander der Bemühungen, die große Aufmerksamkeit zu erlangen, ringt sich schließlich die vage Hoffnung durch, dass hier vielleicht tatsächlich ein Sockel für echte, neue Möglichkeiten gelegt ist, dass die Gemäuer der alten Akademie nicht eingrenzend, sondern durchlässig dastehen. Dass wir doch freier sind als der kleine rote Fisch in seinem Glas.
Die Jahresausstellung ist noch das ganze Wochenende in der Akademie der Bildenden Künste München zu sehen. Eintritt frei.