Kulturphilter

Wie viel Schönheit braucht das Leben?

Die Ausstellung „Jugendstil. Made in Munich“ untersucht die Verbindungen zwischen Alltag und Ästhetik um 1900.

Von Paul-Anton Schulz-Isenbeck; Bild: © Kunsthalle München

Zur Zeit der Wende des 19. in das 20. Jahrhundert war München nicht nur wirtschaftlicher Motor, sondern zugleich kulturelles Zentrum des Deutschen Kaiserreichs. Die selbsternannte “Kunststadt” wurde zu dieser Zeit zum Katalysator einer künstlerischen Bewegung, die Kunst und Alltag auf völlig neuartige Weise miteinander verknüpfen wollte: Der Jugendstil erhob den Anspruch, nicht weniger als das Leben selbst zu gestalten. Alles, vom Schmuckstück bis zur Stadtfassade, vom Kleid bis zur Kaffeetasse, sollte durchdrungen sein von Schönheit und einer tief empfundenen Harmonie zwischen Mensch und Natur.

Künstlerische Durchdringung aller Lebensbereiche

Diesen Anspruch untersucht die Ausstellung „Jugendstil. Made in  Munich“, die derzeit in der Kunsthalle München zu sehen ist. Dabei beginnt sie bewusst nicht mit den klassischen Wegmarken der  Bewegung – etwa der Gründung der Zeitschrift Jugend im Jahr 1896  oder der „Kleinkunst“-Abteilung auf der VII. Internationalen Kunstausstellung 1897. Stattdessen verlegt sie ihren Ausgangspunkt  in das Wohnzimmer des Münchner Unternehmers Carl Thieme, einem  bedeutenden Förderer der Bewegung.

Um 1900 ließ Thieme sein Haus  von Richard Riemerschmid, einem der führenden Köpfe des Münchner  Jugendstils, vollständig umgestalten. Die Neuinterpretation von  Möbeln, Wanddekorationen und Gebrauchsgegenständen in einem  einheitlichen Stil zeigt exemplarisch das zentrale Anliegen des  Jugendstils: die ästhetische Durchdringung aller Lebensbereiche.

Die  Ausstellung verfolgt dieses künstlerische Projekt entlang von fünf  schlagwortartigen Überschriften nach: „Natur“, „Historismen“,  „Märchen, Mythen, Sagen“, „Nah und Fern“ und „Schlicht und  Funktional“. Dabei treffen Naturmotive, wie zum Beispiel das ikonische  Pflanzenornament in Hermann Obrists Wandbehang mit dem  ikonischen Titel „Peitschenhieb“, auf kleinformatige Tierskulpturen,  unter anderem von Wera von Bartels. Historische Technik und  zeitgenössische Glasform verschmelzen in den Vasen von Georg Carl  Reichenbach, deren aufgelegte Glasnuppen und -fäden an  mittelalterliche Gläser erinnern, die in ihrer starken Farbigkeit und  schlichten Formgebung aber zugleich auf das Kunsthandwerk der  1960er- und -70er-Jahre vorausweisen. 

Reform der Kunst und des Lebens

Trotz der Vielfalt der ausgestellten Objekte (insgesamt über 400) und  der behandelten Themen, wirkt die Ausstellung nicht überladen. Die Ausstellungsgestaltung des Münchner Designers Bodo Sperlein schafft Ordnung und Systematik, insbesondere durch die wechselnden  bunten, aber ruhigen Wandfarben, und inszeniert zugleich spannende  Höhepunkte. So erlauben großformatige Fotografien an den Wänden einen quasi-authentischen Eindruck der Innenräume des Thieme Hauses. Und die Reproduktion der Fassade des Hof-Ateliers Elvira von  Philipp Küster lässt den architektonischen Anspruch des Jugendstils  besonders greifbar werden.

„Jugendstil. Made in Munich“ verdeutlicht zudem, wie eng die ästhetischen und gesellschaftlichen Ziele dieser  Bewegung miteinander verwoben waren. Sie arbeitet die persönlichen  und intellektuellen Verbindungen des Jugendstils mit der  Lebensreform-Bewegung heraus und zeigt so, dass beide etwa  Vegetarismus und Alkoholabstinenz propagierten. Der Jugendstil wird  so erkennbar als Teil eines gesellschaftlichen Umbruchs, der sich  gegen die Entfremdung der Industrialisierung richtete.

Wissenschaftlich fundiert, aber nicht belehrend

Insgesamt beweisen die Kuratorinnen und Kuratoren der Kunsthalle  München und des Stadtmuseums, die die Ausstellung gemeinsam  konzipiert haben, ein feines Gespür für die Ambivalenzen und  Widersprüche des Jugendstils. “Jugendstil. Made in Munich” ist  wissenschaftlich fundiert, ohne belehrend zu sein, und wagt es,  Komplexität nicht zu scheuen. Ergänzt durch Vorträge und einen  umfangreichen Katalog, eröffnet die Ausstellung ein facettenreiches  Panorama einer Bewegung, die sich in ihrem utopischen Streben nach  Schönheit und Harmonie nicht nur als Antwort auf die  Herausforderungen ihrer Zeit verstand, sondern auch als Botschaft an  kommende Generationen.

Die Ausstellung ist nicht nur eine Hommage  an eine künstlerische Epoche, sondern bietet Anknüpfungspunkte für  die Diskussion um die Gestaltung von Lebensräumen in einer  zunehmend technisierten Welt. Sie wirft Fragen auf, die damals wie  heute zentral bleiben: Welche Rolle kann Kunst bei der Formung des  Alltags spielen? Wie viel Schönheit braucht das Leben? Und wie viel  Kunst das Alltägliche? 

Die Ausstellung “Jugendstil. Made in Munich” ist noch bis zum 23.März 2025 in der Kunsthalle München zu sehen. Der Eintritt für Studierende kostet EUR 8,-.

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