Gewalt im digitalen Zeitalter sichtbar machen: Das Architekturmuseum widmet sich in der aktuellen Ausstellung Menschenrechtsverletzungen, die mithilfe von bildbasierten Ermittlungen aufgedeckt wurden. Was das mit Architektur zu tun hat und wieso diese Ausstellung auch für Architektur-Laien ein Muss ist.
Von Patricia Leuchtenberger; Bild: © SITU Research, 2023 NYC
Kann man den letzten Atemzug eines Menschen einfangen? Seitdem George Floyd von einem Polizisten ermordet wurde, wissen wir: Ein Video spricht mehr als tausend Worte. „I can’t breathe“, seine letzten Worte, festgehalten auf Video von einer Passantin, hallten um die Welt – und entzündete die globale Protestbewegung Black Lives Matter, die systemischen Rassismus anprangert.
Heute, in der digitalen Ära, sind Bilder allgegenwärtig. Sie werden nicht mehr nur zur Berichterstattung genutzt, sondern auch als Beweismittel. Aktivist*innen werden zu Reporter*innen. Genau hier setzt die Ausstellung „VISUAL INVESTIGATIONS. Zwischen Aktivismus, Medien und Gesetz” im Architekturmuseum der Technischen Universität München an.

Von der Architekt*in zur Ermittler*in
In einer Welt, die von Überwachungstechnologien geprägt ist, entstehen riesige Datenmengen, die gewalttätige und repressive Vorfälle im öffentlichen Raum festhalten. Redaktionen, Staatsanwaltschaften und Menschenrechtsorganisationen stehen vor der Herausforderung, diese Datenströme zu verarbeiten, sowohl in der Berichterstattung als auch in Rechtsverfahren.
Hier kommen Architekt*innen ins Spiel. Denn öffentliche Räume werden zu Zeugen: Mit ihren Skills können sie diese Aufnahmen, Bilder, Tonspuren analysieren und dadurch ganze Landschaften, Trümmer oder Schusswechsel rekonstruieren. Diese neue Disziplin der Visual Investigation hat sich in einer Zeit, die geprägt ist von Falschinformationen, in den letzten zehn Jahren rasant entwickelt.

Forensische Architektur: 3D-Rekonstruktion von Tatorten
Die Visual Investigation hat die Aufgabe, Video- und Bildinhalte mit Menschen, Orten und Geschehnissen zu verbinden. Dabei arbeiten Wissenschaftler*innen aus der Architektur, Informatik, Biologie, Filmwissenschaften, etc. interdisziplinär zusammen. Sie nutzen Methoden wie die Raum- und Klanganalyse, 3D-Modellierung und maschinelles Lernen, um Verbrechen zeitlich sowie räumlich zu untersuchen und Fakten transparent darzustellen.
Das modellbasierte Entwerfen, die sog. forensische Architektur, ist besonders wichtig für die Aufklärung von Straftaten und gehört zum Alltag von Architekt*innen. Hierbei rekonstruieren sie Tatorte in 3D – vom einzelnen Raum mit tatrelevanten Möbeln und Utensilien bis hin zu Häusern oder ganzen Städten. Besonders praktisch ist das, wenn die Tathergänge unklar sind: Dank der forensischen Architektur können Ermittler*innen nicht nur Fakten visuell untermauern, sondern ganze Tathergänge neu untersuchen.
Die Kurator*innen des Architekturmuseums der TUM zeigen in der Ausstellung anhand von sieben Fällen, welche Rolle die Architektur zwischen Aktivismus, Medien und Gesetz einnimmt, um für Menschenrechte einzustehen.

Sieben Fallstudien, fünf Kontinente: Immersiv und emotional
„VISUAL INVESTIGATIONS” ist nichts für schwache Nerven und startet mit brutaler Polizeigewalt, hautnah gezeigt: In einer Blackbox kann man die gnadenlose Gewalt während der Proteste der Black Lives Matter-Bewegung nachempfinden, die in New York City 2020 stattfanden. Bodycam- sowie Luftaufnahmen und diverse Videos beweisen, wie das New York Police Department vehement auf die Demonstrierenden einschlägt und einige grundlos verhaftet. Virtuell rekonstruierte Straßenzüge der Stadt zeigen, wie die Polizei die Demo rechtswidrig eingekesselt hat. Dank dieser umfangreichen visuellen Untersuchung sprach das Gericht von Manhattan den Betroffenen die höchste Entschädigungssumme für „unangemessene Gewaltanwendung“ in der Geschichte der USA zu: insgesamt 13 Millionen USD.

Auch das weite Netzwerk an Internierungslager in China (ca. 50.000!) deckte eine BuzzFeed-Journalistin mithilfe der Visual Investigation auf, wie sie in einer Kurzdokumentation nacherzählt. Satellitenbilder und Interviews rekonstruieren das Leben und die Strukturen im wohl berühmtesten Lager in Xinjiang, dessen Verbrechen gegen die Menschenrechte, insbesondere gegen die Ethnie der Uiguren, bis heute andauern.

Im Westjordanland nutzte ein interdisziplinäres Team Geo-Fernerkundung und Open-Source-Informationen wie Satellitenbilder, um Beweise für Landenteignung und die Zerstörung palästinensischer Gebiete zu sichern. Ein weiteres Fallbeispiel ist auch der Mord an dem indigenen kolumbianischen Journalisten Abelardo Liz. 2020 wurde Liz erschossen, als er eine Konfrontation zwischen Soldat*innen der kolumbianischen Armee und indigenen Demonstrierenden bei einer Landrechtsdemonstration bei der Hauptstadt Bogotá filmte. Bis heute wurde niemand für seinen Tod zur Rechenschaft gezogen, obwohl zahlreiche Beweise für die Schießerei öffentlich zugänglich sind. Hier konnte die Szene der tödlichen Schüsse auf dem verwilderten Gebiet anhand der Geräuschkulisse nachkonstruiert werden.
Architektur goes Menschenrechte
„VISUAL INVESTIGATIONS” setzt nicht nur ein Statement, sondern fordert gleichzeitig das landläufige Verständnis von Architektur in der Gesellschaft heraus: Überall, wo Menschen sind, ist Architektur – vom Menschen, für den Menschen. Sie geht weit darüber hinaus, Gebäude zu entwerfen. Es scheint also nur folgerichtig, einen Beitrag dazu zu leisten, Gewalt und Unrecht in diesen Räumen sichtbar zu machen.
In einer Zeit, die von Fake News und Unsicherheit geprägt ist, demonstriert die Ausstellung, wie die KI auch positiv wirken kann: Sie analysiert Datenströme, dokumentiert Tatorte und bewahrt Beweise für die Ewigkeit. Ein Besuch lohnt sich also – nicht nur für Architekt*innen.
Die Ausstellung „VISUAL INVESTIGATIONS. Zwischen Aktivismus, Medien und Gesetz” findet noch bis zum 9. Februar 2025 im Architekturmuseum der TUM in der Pinakothek der Moderne (Barer Str. 40) statt.
Aufmacherbild: Das Filmmaterial des NYPD-Hubschraubers zeigt Proteste während der Black Lives Matter-Bewegung im Jahr 2020.