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Kunst im Kontext: Wege und Begegnungen – Ein Spaziergang durch Kassel anlässlich der documenta14

Parthenon und Fridericianum auf dem Friedrichsplatz © Foto: Clarissa Bluhm

Von Clarissa Bluhm

Die Stadt und ihre Geschichte: eine besondere Lokalität

Kassel – hier treffen märchenhaftes Volksgut und Industrie aufeinander. Gleich bei der Ankunft erhalten wir einen Eindruck der Stadt durch die Augen unseres Gastgebers, eines arbeitssuchenden Couchsurfers Mitte 50, der hier seit 20 Jahren zuhause ist. Auf unserer privaten Tour für Presse und akkreditiertes Fachpublikum am Vorabend der Preview passieren wir mit ihm zuerst die Torwache: zwei Gebäude eingehüllt in einen Flickenteppich aus zusammengestückelten Jutesäcken des Künstlers Ibrahim Mahama. Unser Stadtführer bleibt stehen und verweist auf die mittelalterliche Altstadt, die hier beginnen müsste, während des Zweiten Weltkrieges jedoch fast vollständig zerstört wurde. Das Mahnmal markiert eine Grenze und ist gleichzeitig einer der Schauplätze der 1955 erstmals ausgerichteten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, die heute alle fünf Jahre stattfindet. Beteiligt ist eine zunehmende Zahl an unterschiedlichen Gebäuden und Orten, wodurch Kunst und Stadt immer dichter zu einem temporären Komplex verwoben werden. So ermöglicht uns die stadtübergreifende Ausstellung, viele Seiten von Kassel und seiner Geschichte kennenzulernen.

Installationsansicht Röhren © Foto: Clarissa Bluhm

Kritische Beiträge auf dem Friedrichsplatz

Mit unserem Gepäck passieren wir als nächstes die Röhren-Installation von Hiwa K. auf dem Friedrichsplatz. Ohne rechte Winkel oder gerade Linien präsentieren sich verschiedene Zimmer, ausgestattet mit Sitz- und Liegemöglichkeiten und sogar Elektrizität. Das „Besteigen Verboten“-Schild vermissend, ist unser Reiseführer schon im Begriff, das Badezimmer des Röhrenhotels auszuprobieren. Er zögert, als ein älterer Herr auf uns zukommt, der auf einem Stuhl vor der Installation saß und sich als ehrenamtlich tätiger Kasseler herausstellt. Die Frage, ob wir sie denn besteigen dürfen, bejaht er sofort und lächelt; schließlich würden sie hier doch ihre Gäste unterbringen! Neben dem bevorstehenden Besucherandrang, der allgemeinen Wohnungsknappheit in Großstädten und der Unterbringungsproblematik von Geflüchteten ist das allgemeine Gefühl der Ausquartierung hier sehr greifbar. Aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse sehen wir jedoch erst mal von einer Übernachtung im Kunstwerk ab.

Die Präsenz der griechischen Hauptstadt Athen als Mit-Gastgeberin der diesjährigen documenta ist überall spürbar, insbesondere durch die griechischen Künstler, die im Fridericianum ausgestellt sind und sich mit der jüngeren Geschichte ihres Landes auseinandersetzen. Auf dem zentralen Platz tritt auch ein größengetreues Abbild des Parthenons in Athen mit der Tempelfront des Fridericianums in Dialog. Das nachgebaute Parthenon markiert den Schauplatz für eine der zahlreichen Bücherverbrennungen im Dritten Reich, die hier stattfand. Das luftige Skelett des Monuments ist fast vollständig eingekleidet mit den Werken verschiedenster Autoren, geschützt und verbunden durch eine durchsichtige Plastikfolie. Der Tempel setzt ein Zeichen gegen Zensur; auf der Website der documenta findet sich eine dazugehörige Liste mit 70 000 verbotenen Titeln. Der unfertige Zustand des Mahnmals visualisiert die Prozesshaftigkeit der geltenden Verbote. Eine durchsichtige Spendenbox aus Plexiglas ist für Bücherspenden der Besucher aufgestellt. Durch ihre Spende, die dem Tempel später hinzugefügt wird, können sie Teil des Kunstwerkes werden.

Rückansicht Parthenon mit Büchereinkleidung und unfertiger Seite © Foto: Clarissa Bluhm

Interaktion und Partizipation als Forderung an die Besucher

Besucher und Einheimische werden häufig eingebunden, Partizipation spielt eine große Rolle – es wird keine Deutungshoheit in Anspruch genommen. Vielmehr ist hier Raum für Interpretation und freie Assoziation. Viele Beiträge sind hochpolitisch und mit Gegenwartsbezug, regen mit ihren kritischen Fragen zum Nachdenken an. Auch postkoloniale Realitäten und außereuropäische Perspektiven sind in der Ausstellung vertreten. Dadurch erhält sie einen polyphonen Charakter, der sich nicht auf eine eurozentrische Sichtweise und Aufarbeitung beschränkt. Thematisiert werden aktuelle Anliegen, welche die gesamte Menschheit betreffen. Mit 150 beteiligten Künstlern an 35 Veranstaltungsorten ist es in zweieinhalb Tagen kaum zu schaffen, alles zu sehen – aber wir versuchen es trotzdem.

Der von der documenta bereitgestellte Überblicksplan lädt aufgrund von Ungenauigkeiten regelrecht zu Gesprächen mit Passanten ein. Die Neue Neue Galerie etwa, angesiedelt in der neuen Hauptpost und nicht zu verwechseln mit der Neuen Galerie, bleibt von unserem Navigationsdienst unauffindbar. Beabsichtigt oder nicht, man irrt durch die Straßen der Stadt, mehr als einmal müssen wir nach dem Weg fragen. Dabei kommt man leicht in Kontakt mit den Menschen aus Kassel – auch die Einwohner fungieren als Gastgeber und sind bereitwillig Wegweiser, Informanten oder Begleiter. Besucher werden zu Entdeckern. Manchmal entdeckt man erst auf den zweiten oder dritten Blick öffentlich zugängliche Kunstwerke von früheren Ausstellungen, wie etwa die Skulptur Man Walking to the Sky von Jonathan Borofsky auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofes, die heute zum Stadtbild gehört.

„Vielen Dank, dass Sie mit der Zukunft kommunizieren“ heißt es auf einem Fragebogen, der als Teil der Installation von Agnes DenesThe Living Pyramid in einem Kasten vor der terrassenförmigen, bepflanzten Skulptur zu finden ist. Die Antworten der Besucher auf 18 Fragen wie „Was denken Sie über den derzeitigen Zustand der Umwelt?“ oder „Wie meinen Sie wird die Zukunft der Menschheit aussehen?“ sollen in digitalisierter Form in einer Zeitkapsel aufbewahrt und in einem Jahrtausend wieder geöffnet werden. Während diese Zeitangabe unmöglich greifbar ist und die gewichtigen Fragen uns von einer spontanen Teilnahme abschrecken, erschafft das Kunstwerk in seiner Absurdität trotzdem eine Plattform für den Austausch mit anderen Kunstinteressierten aus der ganzen Welt. Und so treten wir mit unzähligen neuen Eindrücken, Entdeckungen und Begegnungen unsere Rückreise an.

Installationsansicht der Living Pyramid im Nordstadtpark © Foto: Clarissa Bluhm
Wand-Graffiti © Foto: Volha Karankevich-Koch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

INFO
Die Documenta14 ist eine stadtübergreifende Ausstellung für zeitgenössische Kunst, die gleichzeitig in Athen und Kassel stattfindet/ausgerichtet wird.

Öffnungszeiten Athen: 8.4.-16.7.2017, Di-So 11-21 Uhr, Do bis 23 Uhr, einzelne Ausstellungsorte können abweichen

Öffnungszeiten Kassel: 10.6.-17.09.2017, tgl. 10-20 Uhr.

Tageskarte für Kassel 22,- (ermäßigt 15,-), Dauerkarte 100,- (ermäßigt 70,-)

Anmeldung für Infos und Updates: newsletter@documenta.de
www.documenta14.de

 

Kunst im Kontext

KUNST IM KONTEXT war bis Ende des Sommersemesters 2019 eine Kooperation mit dem Department Kunstwissenschaften der LMU. Studierende der fünf Studiengänge Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte, Kunstpädagogik, Musikwissenschaften und Musikpädagogik rezensierten Ausstellungen, Konzerte und Theaterinszenierungen, berichteten über berufliche Perspektiven nach dem Studium und schrieben über alles, was sonst noch so los ist an der Isar. Die Texte entstanden im Rahmen von Seminaren des Departments und in einem freien Redaktionsteam.

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