Im Dokumentarfilm „Johatsu“ zeigen die Regisseure Andreas Hartmann und Arata Mori verlorene Menschen in Japan. Was passiert mit denen, die plötzlich aus ihrem alten Leben fliehen müssen?
Von Jonas Hey; Bild: © Real Fiction Filmverleih
Die meisten haben schon vom enormen Druck der japanischen Leistungsgesellschaft gehört. Was aber geschieht mit den Menschen, die dem nicht mehr standhalten? In Japan nennt man sie Johatsu, was Verflüchtigung oder Verdampfung bedeutet. Von diesem Phänomen und seinen Betroffenen handelt der Dokumentarfilm „Johatsu – Die sich in Luft auflösen“.
Der deutsche Kameramann und Regisseur Andreas Hartmann produzierte bereits 2017 den Dokumentarfilm „A Free Man“, bei dem es um einen jungen Obdachlosen in Japan ging. Die Expertise, über Land und Leute zu berichten, bringt er also schon mit und diesmal wird er darin noch durch den japanischen Regisseur Arata Mori unterstützt. Jener ist eher für Experimentalfilme bekannt. „Johatsu“ feierte seine Premiere im März 2024 auf dem Thessaloniki Documentary Festival. Außerdem wurde er auf dem DOK.fest in München gezeigt, wo er den Hauptpreis gewann.
Abtauchen in eine fremde Welt
Zu Beginn begleitet die Kamera sogenannte Night Mover: Das sind Menschen, die ihre Klient*innen innerhalb von einer Nacht verschwinden lassen und ihnen gar beim Umzug helfen. Im Laufe des Films weicht aber die anfängliche Hektik. Später lässt er sich deutlich mehr Zeit, um die Charaktere vorzustellen. So gibt es zwei befreundete junge Leute, die vor einem cholerischen Chef geflohen sind und nun in einem Freudenhaus am Meer als Servicekräfte arbeiten. Sie scheinen froh zu sein, der Hölle entkommen zu sein, aber ihnen ist auch der Schmerz ins Gesicht gemalt. Schließlich mussten sie ihr gesamtes Leben aufgeben und sich vollständig den neuen Umständen ausliefern.
Ähnlich verhält es sich mit einem mittlerweile alten Mann, der behauptet, vor Schulden und der Mafia aus seinem Heimatort nach Tokio geflohen zu sein. Er lebt nun in einem Viertel, das von vielen Johatsu bevölkert ist. Sie halten zusammen, bilden aber nicht gerade eine Gemeinschaft. Schließlich trauert jeder seinem alten Leben nach oder hat ein dunkles Geheimnis, das er nicht preisgeben kann.
Nachdenklich stimmt eine junge Mutter, die verzweifelt nach ihrem verschwundenen Sohn sucht. Sowohl Bank als auch Staat weigern sich aufgrund des Datenschutzes, Informationen herauszugeben. Nimmt man anfangs noch an, dass die Mutter das Opfer ist, so entspinnt sich später ein Dialog: Darin sagt ihre Tochter, die Mutter sei doch eine Tigermutter gewesen. In diesen Momenten scheint im Film durch, dass das Dasein sehr kompliziert sein kann. Wer aus seinem alten Leben flieht, muss einen triftigen Grund gehabt haben.
Sind die Geschichten glaubwürdig?
Dann gibt es noch den Fall des Geschäftsmanns, der das Unternehmen seines Vaters ruiniert hat und vor den Schulden geflohen ist. Der Geschäftsmann berichtet, dass ihn sein Sohn gefunden hat. Ihm ist die Erleichterung anzusehen, doch nicht seine Familie verloren zu haben, aber zugleich bleibt die Angst vor den Gläubigern. Immerhin will er das Geld vollständig zurückzahlen. Er lebt in der Hoffnung, in sein ehemaliges glückliches Leben zurückzukehren und wie sehr würde man es ihm wünschen.
Bei ihm, dem Mafiaflüchtling und der besorgten Mutter stellt man sich irgendwann die Frage, ob die erzählten Geschichten überhaupt stimmen. Sind diese Menschen in ihrem Leid glaubwürdig oder fantasieren sie eine Geschichte, in der Andere an ihrem Schicksal schuld sind? Diesen Konflikt aufgrund der Subjektivität kann der Film nicht auflösen, da er nur die Betroffenen als Zeug*innen hat. In keinem der Fälle werden beide Seiten gehört. So sehr der Film also ein interessantes Phänomen betrachtet, bleibt doch die Frage nach der Glaubwürdigkeit.
Der Film läuft seit dem 14. November 2024 in den deutschen Kinos und wird von Real Fiction vertrieben.