Ein Uhrzeiger dreht sich unaufhaltsam, die Sprache steht in Brand. Thomas Köcks „Chronik der laufenden Entgleisungen“ verwebt österreichische Innenpolitik mit der Melancholie einer geschichtslosen Arbeiterklasse. Eine deutsche Erstaufführung im Metropoltheater, die belehren will – und darf.
eine Rezension von Benny Leucht & Hannah Koch; Bilder © Metropoltheater München / Joel Heyd
Eine*r nach der*dem anderen geben sich die fünf Schauspieler – Harald Horvath, Victoria Mayer, Sophie Rogall, Hubert Schedlbauer und Luca Skupin – als solche zu erkennen. Sie sprechen aus den im Kreis aufgestellten Publikumsreihen zu den Zuschauenden, oder doch als und für sie. Die Grenze zwischen Beobachtung und Teilhabe wird spürbar durchlässig. Sie sprechen mit der Zunge des Chronisten, der sich an der immer weiter zuspitzenden politischen Lage im Jahr 2024 abarbeitet. Sie sprechen als sozial abgehängte Menschen, deren Unzufriedenheit sich in xenophobem Hass entlädt. Sie sprechen mal als Vertreter*innen einer Privatjet fliegenden ‚Mittelklasse‘, mal als ihrer Geschichte beraubte Arbeiterkinder.
Das Stück „Chronik der laufenden Entgleisungen“ basiert auf Thomas Köcks einjähriger Beobachtung der österreichischen Innenpolitik im Vorfeld der Nationalratswahlen 2024. Dort wurde die FPÖ mit dem Spitzenkandidaten Herbert „Volkskanzler“ Kickl erstmals stärkste Kraft. Für die deutsche Erstaufführung am Münchner Metropoltheater hat der Regisseur Alexander Weise, bekannt für seine Arbeit mit Sprechchören an renommierten deutschsprachigen Theaterhäusern, eine Bühnenfassung erarbeitet und Köck einen exklusiven Pro- und Epilog verfasst.
Wer bereits Stücke von Köck gesehen hat – was ohne Einschränkungen zu empfehlen ist –, etwa die „Klimatrilogie“, „Eure Paläste sind leer“ oder „proteus 2481“, der wird den köckschen Stil wieder erkennen: das Futur II, das von vergangenen Zukünften und zukünftig Vergangenem zeugt, und die dauernde Überblendung verschiedener Missstände – der Spätkapitalismus, Europas koloniales Erbe, die kommende Klimakatastrophe. Hier ist all dies zu entdecken, aber in einer reduzierteren Form. Stattdessen folgt der Chronist den Ereignissen mehr oder weniger assoziativ, in einem mal nüchternen, mal prophetischen, mal fatalistischen Ton.
„Alles wird sich an der Sprache entzünden, sie steht schon in Brand, man sieht den Rauch.“ Mit diesem Satz stellt das Stück eine seiner zentralen Thesen auf: In und mit der Sprache werden dem Populismus die Weichen gestellt. Diskursive Verschiebungen provozieren erdrutschartig Verschiebungen in der politischen Wirklichkeit, Grenzen des Sagbaren werden eingerissen, damit Staatsgrenzen verhärtet werden können. Ob die Asche uns unter sich begraben wird, oder das Feuer noch zu löschen ist, ist die Frage, die das Stück stellt. Diese Frage nach der (Un-)Aufhaltbarkeit der Zeit wird auch im Bühnenbild aufgegriffen. Ein Uhrzeiger, der sich unaufhaltsam dreht und herausfordernd auf das Publikum richtet, so als wolle er sagen: „Es liegt an euch!“. Vorübergehend wird die Zeit dann doch ausgehebelt. Die Sprachflut verebbt und die Uhr wird entmantelt, sodass das Uhrwerk zutage tritt.

Es ist ein Abend, der durchaus belehren will, der sich nicht zufrieden gibt mit der Annahme, dass sich allein durch die öffentliche Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen fundamentale Ungleichheiten überwinden ließen. Anstelle der Frage der Repräsentation rückt Köck also die ökonomischen Verhältnisse ins Zentrum. Er dokumentiert nicht nur den „alpenvorländischen Verdrängungszusammenhang“ und den allgemeinen „Herbert-Komplex“, das heißt die zunehmende Beliebtheit des Rechtsextremismus in ganz Europa, sondern versucht ihn zu erklären. Dafür nimmt er mehrere Anläufe: Die Eindrücke einer Fahrt durch den verlassenen und verarmten ländlichen Raum – leerstehende Geschäfte, verfallende Infrastruktur, Perspektivlosigkeit – mögen erklären, warum gerade das enttäuschte Kleinbürgertum dieser Regionen empfänglich für rechte Versprechen wurde. Ehemalige Handwerker, denen jetzt als Fabrikarbeiter, als Sub-Sub-Unternehmer, als „Konkurrenten auf Vertragsbasis“ alle Solidarität ausgetrieben wird. Die gläserne Decke, die als „Betonkuppel“ erscheint. Und dann noch die Individualisierung des Scheiterns. Kurz: Ökonomische Ein- und Ausschlüsse sind es, die sich hinter der steilen Karriere des Rechtspopulismus verbergen. Diese durchaus bedrückende Analyse wird nur einige Male von gut gesetzten Pointen unterbrochen. Eingespielte, erzwungen klingende Lacher kommentieren dieses Lachen angesichts der grotesken Gegenwart.
Eine Art Ausweg könnte die Wiedererweckung des Klassenbewusstseins sein. Hierfür zieht die Inszenierung Cynthia Cruz‘ „The Melancholia of Class“ heran. Ihre kulturwissenschaftliche und persönliche Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichtslosigkeit der Arbeiter*innenklasse wird immer wieder zitiert und einmal sogar fünfstimmig intoniert. Cruz‘ These von der systematischen Auslöschung proletarischer Erinnerung und Identität und die damit verbundene Unfähigkeit diese zu betrauern produziert eine Melancholie, die den Abend durchzieht wie ein roter Faden – eine Klasse ohne Archiv. Bei Köck spricht sie in vielen Stimmen: vom Gefühl der Unzugehörigkeit, ihrer Wut und Sprachlosigkeit sowie deren Überwindung.
Diese Zusammenhänge lassen die Frage aufkommen, ob sich das Bild der Entgleisung, welches im Titel aufgerufen wird, tatsächlich durchhalten lässt. Es suggeriert ja, dass es einmal eine klare Route gab, einen sicheren Weg, der von Punkt A nach Punkt B führt, zu dem der Zug, etwa die liberale Demokratie, die sogenannte Mitte, seine Passagiere sicher transportiert. Stattdessen stellt das Stück infrage, ob wir davor schon im richtigen Zug saßen. Es endet schließlich doch mit einem schönen Schwindel, den es verbittert als solchen auch erkennt – vielleicht dem schönsten: „Kunst und alles. Gerade hier, gerade jetzt.“
Das Stück „Chronik der laufenden Entgleisungen“ von Thomas Köck feierte am 17. Oktober im Metropoltheater München Premiere. In den kommenden Wochen wird es weiterhin regelmäßig aufgeführt, an Wochenenden in der Regel um 19:30 oder 18:00 Uhr. Karten sind an der Abendkasse oder digital über München Ticket für rund 18 Euro erhältlich.

