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„Ich male nicht mehr“

Mit diesem Satz verabschiedete sich Gerhard Richter 2020 von der Malerei. Fünf Jahre später muss man ergänzen: „Aber er zeichnet noch“. Im Mai hat die Pinakothek der Moderne 81 bislang unbekannte Zeichnungen von Gerhard Richter gezeigt: konzentriert, präzise und mit einer leisen Dringlichkeit.

Von Paul Anton Schulz-Isenbeck; Bild: © Gerhard Richter

I.
Freitagnachmittag, 16 Uhr: Besucherinnen und Besucher der Pinakothek der Moderne läuten hier im Museum das Wochenende ein. Angelehnt an die Glasfront der Empore im Obergeschoss beobachten einige das rege Treiben im Inneren des Gebäudes. Von der lichtdurchfluteten Rotunde im Erdgeschoss braucht es nur wenige Schritte zur Staatlichen Graphischen Sammlung in der Pinakothek. Dort führt ein schmaler Gang in den zentralen Ausstellungsraum. Auf beiden Seiten des Gangs sind Schaukästen beleuchtet. In einem hängt – eingeklemmt zwischen stark spiegelndem Antelio- und Plexiglas – die Farbfotografie eines Schädels. Die anderen Schaukästen sind leer. 

II.

Der „Schädel“ aus dem Jahr 2017 ist das älteste Werk in dieser Ausstellung. Alle anderen sind in den vergangenen drei Jahren entstanden. Sie stammen von Gerhard Richter, dem Künstler, dessen Malereien weltbekannt sind und zu den teuersten auf dem Markt gehören. Seine Werke werden von Laien ebenso geschätzt wie von Expertinnen und Experten. Und fragt man Letztere zu Gerhard Richter, fällt immer wieder ein Begriff: „Jahrhundertkünstler“. 

III.

Entsprechend starke Wellen schlug es, als Richter bekannt gab: „Ich male nicht mehr“. Im Mai 2025 stand dieses Zitat am Eingang zu der Ausstellung mit dem Titel „81 Zeichnungen, 1 Strip-Bild, 1 Edition“, der sich in seiner Nüchternheit wie ein ironischer Kommentar liest: auf die ansonsten übermäßig kryptischen Titel für Gegenwartskunstaustellungen genauso wie auf eine Kunsttheorie, die in ihrer poststrukturalistischen Komplexität oft unzugänglich geworden ist. Demonstrativ nüchtern ist dann auch die Ausstellungsarchitektur. Vier weiße Außenwände begrenzen einen quaderförmigen Ausstellungsraum, in dessen Mitte sich eine beidseitig passierbare freistehende Ausstellungswand einfügt. Das Strip-Bild, das hier im Zentrum des Raums hängt, hat Richter eigens für die Ausstellung angefertigt. Am Computer hat er eine digitale Version eines seiner früheren abstrakten Gemälde in Farbstreifen zerlegt, die er nach algortihmischen Regeln gespiegelt, gestaucht, vervielfacht und schließlich in strenger vertikaler Reihung neu zusammengesetzt hat. Ausgedruckt auf der Alu-Dibond-Tafel wirkt das Strip-Bild als ästhetisches Gravitationszentrum inmitten der Ausstellung, mit dem die Zeichnungen an den Außenwänden des Raums in eigentümlicher Spannung stehen: Hier eine großformatige Farbstreifen-Explosion, dort die kleinformatigen, seriell gehängten Blätter. Hier die rauschhafte Extroversion, dort konzentrierte Introversion. 

IV.

Dass das vier Meter breite und zwei Meter hohe Strip-Bild trotz seiner monumentalen Größe und der prominenten Hängung die Zeichnungen nicht überlagert, liegt wohl daran, dass Richter sich ein Modell des Ausstellungsraums vorab in sein Atelier hat liefern lassen. Vor allem sind es aber die Zeichnungen selbst, die sich kraft ihrer technischen Komplexität, ästhetischen Qualität und intellektuellen Dichte selbstbewusst behaupten. Richter collagiere mit seinen Zeichnungen, erklärt Michael Hering, Leiter der Graphischen Sammlung und meint damit wohl vor allem die kontrollierte Kombination zeichnerischer Techniken, Verfahren und Materialien: Richter experimentiert mit Tusche, Kohle und Bleistift. Er zieht schnurgerade Linien, schraffiert, rastert, kleckst und verwischt. So eröffnet er Bildwelten, die weder völlig willkürlich noch völlig prädeterminiert sind. Seine Zeichnungen changieren zwischen Zufall und Lenkung, zwischen Chaos und Ordnung. Und wirken dabei wie die eingefrorenen Gedanken eines Tagebuchs.

V.

Dass diese Zeichnungen in den letzten drei Jahren entstanden sind – in Zeiten von Pandemie, Ukrainekrieg, dem 7. Oktober – verleiht ihnen eine leise Dringlichkeit. Sie zeigen Versuche, eine chaotisch gewordene Welt zurückzuerobern: durch Form, Linie und Ordnung. Dabei setzen sie nicht auf große Gesten, sondern sind Einladungen zur genauen Betrachtung. Und in einer Zeit, die so laut geworden ist, vielleicht genau das richtige Format: präzise, konzentriert und auf eigentümliche Weise still. 

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