In unserer „So war das sicher nicht gemeint“-Reihe nehmen wir uns namhafter Gedichte der Weltliteratur wie auch wichtiger Werke aus der bildenden Kunst an und interpretieren sie, auf dass unseren alten Deutschlehrer*innen die Haare zu Berge stehen mögen. Diesmal haben wir das Gedicht „Nachtgedanken“ von Heinrich Heine unter die Lupe genommen und kommen zu dem Schluss: Das Werk spielt eindeutig während einer weiteren globalen Pandemie und Heine ist dabei einer der Leidtragenden. Aber so einfach gibt der kluge Kopf nicht auf!

Nachtgedanken von Heinrich Heine (1797-1856)
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.
Die Jahre kommen und vergehn!
Seit ich die Mutter nicht gesehn,
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.
Mein Sehnen und Verlangen wächst.
Die alte Frau hat mich behext,
Ich denke immer an die alte,
Die alte Frau, die Gott erhalte!
Die alte Frau hat mich so lieb,
Und in den Briefen, die sie schrieb,
Seh ich, wie ihre Hand gezittert,
Wie tief das Mutterherz erschüttert.
Die Mutter liegt mir stets im Sinn.
Zwölf lange Jahre flossen hin,
Zwölf lange Jahre sind verflossen,
Seit ich sie nicht ans Herz geschlossen.
Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land,
Mit seinen Eichen, seinen Linden
Werd ich es immer wiederfinden.
Nach Deutschland lechzt‘ ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.
Seit ich das Land verlassen hab,
So viele sanken dort ins Grab,
Die ich geliebt – wenn ich sie zähle,
So will verbluten meine Seele.
Und zählen muß ich – Mit der Zahl
Schwillt immer höher meine Qual,
Mir ist, als wälzten sich die Leichen
Auf meine Brust – Gottlob! Sie weichen!
Gottlob! Durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.
Es liegt auf der Hand: Heine vermisst seine Mama und will zurück ins Kinderstübchen nach Deutschland. Er ist ein liebender Sohn. So weit, so gut, doch warum stattet er seiner Mutter dann nicht einfach einen Besuch ab?
Dafür gibt es einen guten Grund: Wir werfen einen Blick in die Zukunft. Europa wurde von einer weiteren Pandemie heimgesucht – diese führte zu jahrzehntelang geschlossenen Grenzen. Denn die Politiker, zu dieser Zeit meist Autokraten genannt, wollten ihre Fortschritte bei der Impfstoffentwicklung nicht miteinander teilen.
Und warum geht es dem Autor in Frankreich schlussendlich so gut, warum verschwinden seine „deutschen Sorgen“? Sein „Weib“ ist die für ihn zuständige Krankenschwester, er ist nämlich selbst an dem sich akut verbreitenden Virus erkrankt und seit einigen Monaten bettlägerig. Dabei ist er jedoch rundum gut versorgt – denn der Pflegemangel wurde endlich durch mehr staatliche Förderung und höhere Gehälter behoben. Die Tränen, welche Heine vergießt, entstehen durch Halluzinationen aufgrund besonderer Medikamente, die er einnimmt. Nun plant das lyrische Ich, selbst einen Impfstoff zu entwickeln, weil es auch seiner Mutter in Deutschland schlecht geht. Er arbeitet jedoch, da er tagsüber stets überwacht wird, nur nachts im Labor an seinem Heilmittel – bisher mit wenig Erfolg. Darum ist er auch besonders erleichtert über die Sonnenstrahlen und seinen temporären Feierabend.
Heine betont in dem Gedicht die Sterblichkeit der Menschen und die knapp bemessene Zeit unsererseits. Er holt seine Leser als liebender und leidender Sohn auf emotionaler Ebene ab. Außerdem äußert er deutlich zu seiner Zeit wohl nicht gern gesehene, da nicht nationalistisch geprägte Standpunkte – weshalb ein passenderer Titel für sein Werk eher verseuchte Gedanken gelautet hätte.