Der lettische Oscar-Preisträger für den besten Animationsfilm in Spielfilmlänge kommt ohne eine menschliche Figur und ohne ein einziges gesprochenes Wort aus. Reicht auch. Die Bilder und Laute erzählen die Geschichte.
Von Pavel Fridrikhs; Bilder © Janus Films
Tiere in Filmen sind fast immer anthropomorphisiert: Sie laufen auf zwei Beinen, sprechen unsere Sprache und verhalten sich auch sonst wie wir. Meistens stehen sie dann sinnbildlich für Charaktereigenschaften oder soziale Gruppen. Ein mächtiges erzählerisches Werkzeug und Status Quo in der Animation – Tiere werden uns ähnlich dargestellt, weil sich so leichter Geschichten erzählen lassen. Diesen bewährten Spieß dreht der lettische Regisseur Gints Zilbalodis mit seinem Animationsfilm „Flow” um.
Einfaches Setup, komplexes Ergebnis
Die Handlung beginnt damit, dass die Hauptfigur, eine graue Hauskatze, im Wald vor einem Hunderudel flieht. Als sie sich in Sicherheit wähnt, kommt die erste große Überraschung: Eine Sturzflut apokalyptischen Ausmaßes bricht über sie herein und lässt den Wasserspiegel den Rest des Films über ansteigen. Damit ist das Setting von „Flow” etabliert. Das Wasser verschluckt immer größere Teile der Welt und die darüber verstreuten Tiere müssen Zuflucht suchen und gemeinsam um ihr Überleben kämpfen. Die Prämisse ist erstmal nicht neu. Dass grundverschiedene Figuren gezwungen sind, ihre Differenzen aus dem Weg zu räumen und zusammenzuarbeiten, ist eine zeitlose Story. „Flow” handhabt sie nur auf eine ganz eigene Art und Weise.

Die Katze muss im Zuge der Flut ihr Haus verlassen (von den Menschen, die es bewohnt haben müssen, keine Spur!) und findet Zuflucht auf einem kleinen Segelschiff. Dort lernt sie das oben abgebildete Capybara und später auch einen Lemur und einen Vogel kennen. Selbst der freundliche Labrador aus dem eigentlich verhassten Hunderudel stößt später dazu. Das Spannende: Der Film stellt nie wirklich klar, wie intelligent die Tiere sind. Einerseits benutzen sie keine Werkzeuge, geben keine Signale und tüfteln keine Pläne aus. Andererseits wissen sie, wie man das Schiff ungefähr steuert und haben ein Ziel vor Augen: eine riesige Gesteinsformation in der Ferne. Das macht ihre Zusammenarbeit spannend, denn die Zuschauenden könnten sie sowohl mit Intelligenz als auch mit Instinkt erklären. Zudem sind die Interaktionen zwischen den Tieren einfach unterhaltsam, weil sie auch ohne Sprache sehr lebhaft und liebevoll vertont wurden.
Augenschmankerl auf zwei Ebenen
Abgesehen vom Sounddesign kann sich auch die Animation des Films sehen lassen. Bei ihr wirkt es, als wäre der Film von zwei Teams parallel entwickelt worden: Das eine kümmerte sich um die wunderschönen Wasser- und Lichteffekte, die Hintergründe und sämtliche Natur. Das Andere animierte die Tiere und Objekte, mit denen sie hantieren. Die Umwelt ist sehr realistisch gehalten, während die Tiere mehr nach Videospielfiguren aussehen. Das soll aber nicht negativ klingen: Dadurch heben sie sich mehr von der Umgebung ab und haben eine ausdrucksstärkere Mimik. Abgesehen davon ist „Flow” unfassbar farbenfroh, was die Welt darin trotz der Sintflut seltsam einladend macht.

Selbst eine verlassene Stadt wirkt attraktiv. Sie ist eine Art ruhiger Hafen und auch der Ort, wo die Katze die entscheidende charakterliche Entwicklung durchmacht: Schon zuvor hat sie mehrfach versucht, Fische zu jagen, ist aber immer an ihren eigenen Ängsten gescheitert. Einmal musste sie sogar von einem Wal vor dem Ertrinken gerettet werden. In den Ruinen gelingt unserer Hauptfigur aber endlich der Durchbruch: Sie verliert ihre Scheu und findet ihren Platz auf dem Schiff als Sammlerin von Nahrung. Nachdem sie zuvor meistens einzelgängerisch und ich-bezogen aufgetreten ist, wird sie Teil der Gruppe und lernt, mit dem Strom zu schwimmen. Der Moment, wo die Katze den ersten Fisch an Deck bringt, ist Sinnbild der inneren Handlung von „Flow” und bringt die Message des Films besser auf den Punkt als jede andere Szene.
Ein durchwachsenes Ende
Bis hierhin ist „Flow” in Sonnenlicht und warme Farben getaucht. Nach dem Besuch in den besagten Ruinen schwenkt er jedoch für seinen dritten Akt in überraschend düstere Gefilde: Bei der Ankunft an den himmelhohen Gesteinsformationen am Horizont zieht ein Sturm auf, der Vogel verlässt das Schiff und die Katze wird über Bord geworfen. Beide kommen am Gipfel an und dort wird „Flow” kurz surreal. In einer psychedelischen Sequenz verschwindet der Vogel im Himmel. Was das genau aussagen soll, wird nicht klar. Allgemein überschlagen sich ab dem Moment die Ereignisse etwas zu schnell – fast so, als würde Regisseur Zilbalodis einen Höhepunkt forcieren wollen. Der Wasserspiegel sinkt danach wieder abrupt ab, die Katze findet den Rest ihrer Crew wieder und gemeinsam retten sie das Capybara vor dem tödlichen Sturz in eine Schlucht. Insgesamt ist das zu viel Action hintereinander und steht im Kontrast zum restlichen Film.

Das schmälert allerdings den Gesamteindruck des Films nur wenig. „Flow” macht sehr viel aus seiner enorm simplen Handlung und bietet eine erfrischende neue Herangehensweise daran. Die Ästhetik und das Sound Design leisten dabei die meiste Arbeit und sorgen dafür, dass auch nach dem Ende des Films viel Interpretationsspielraum bleibt. Führen die Tiere von nun an ein gemeinsames Leben? Wie viele vermeintlich menschliche Emotionen stecken denn wirklich in ihnen? Alles Fragen, die wahrscheinlich ungeklärt bleiben werden. Schließlich können die Tiere uns keine Antwort darauf geben.
Der Film feierte in Cannes 2024 Premiere und kam im März 2025 in die deutschen Kinos. Bei den Oscars 2025 wurde der Film als Bester Animationsfilm ausgezeichnet.