Wie umgehen mit dem Verlust, kollektiv wie individuell? An der Kulturbühne Spagat wird diese Frage anhand einer theatralen Bearbeitung des Romans „Extrem laut und unglaublich nah“ von Jonathan Safran Foer verhandelt.
Von Christopher Bertusch; Bilder: © Severin Vogl
Mit unseren Getränken in der Hand werden wir am Premierenabend in ein kleines Nebenzimmer geführt. Stühle und Tische stehen vor roten holzverkleideten Wänden, aus den Lautsprechern säuselt sanfte Loungemusik. Es wirkt, als hätten wir uns in ein gemütliches Café verirrt, wäre da nur nicht dieser Overheadprojektor in der Mitte des Raumes.
Projektion in Richtung Vergangenheit – oder Zukunft?
Man möchte fast nicht zu viel darüber verraten, was sich in der folgenden Stunde Wunderbares darauf abspielt. Dabei ist die Geschichte von „Extrem laut und unglaublich nah“ schnell erzählt. Der neunjährige Oskar Schell ist Erfinder, Schmuckdesigner, Pazifist, Perkussionist, Amateur-Astronom und Origamikünstler, neben anderen Dingen. Er lebt in New York City und verliert seinen Vater bei den Anschlägen am 11. September. Doch dann findet er in dessen Zimmer einen geheimnisvollen Schlüssel und macht sich auf eine Reise durch eine Stadt, die wie er Abschied von Freunden und Familien nehmen musste.
2005 erschien Jonathan Safran Foers Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ und avancierte zum Bestseller, trotz einiger Kritikerstimmen, die ihm zwar hohe Ambitionen, aber nicht immer die nötige Tiefe diagnostizierten. Trotzdem wurde die literarische Beherztheit gelobt, sich nur einige Jahre später mit einer der größten Tragödien der US-Geschichte auseinanderzusetzen. In „After the Fall“ einer Abhandlung über literarische Darstellungen der Septemberanschläge stellte Literaturprofessor Richard Gray bei seinen Kolleg*innen eine gemeinsame Lähmung fest: „If there was one thing writers agreed about in response to 9/11, it was the failure of language; the terrorist attacks made the tools of their trade seem absurd.“ [„Wenn es eine Sache gab, über die sich die Schriftsteller als Reaktion auf den 11. September einig waren, dann war es das Versagen der Sprache; die Terroranschläge ließen die Werkzeuge ihres Handwerks absurd erscheinen.“]
Foer lebte in New York und erlebte die Ereignisse hautnah: Bewusst wählte er die literarische Stimme eines Kindes, um der von Gray angesprochenen Ohnmacht zu begegnen. Während Oskar versucht, den Tod seines Vaters zu verstehen, versuchen seine Mitmenschen ebenso das Trauma der Anschläge zu verarbeiten.
Um zu verstehen, muss man sich öffnen
Ähnlich ambitioniert beweist sich die Theateradaption von Regisseur Philipp Jescheck und Florentina Tautu – sie verkürzen den Stoff sogar, ohne dass er an Wirkung einbüßt. Die Perspektive eines Neunjährigen verwandeln sie in die Reflexionen eines Erwachsenen. Nils Thalmann rekapituliert als erwachsener Oskar seine Kindheitsreise.
Fasziniert beobachtet man, wie er im braunen Pullover und Sneakers gekonnt von tierischen Fun Facts zur eigenen Familiengeschichte wandelt. Da geht es einmal um Oktopoden, dann um Ringo Starr und dahinter versteckt sich dieser Abschied, der alles überschattet. Manchmal reichen die Worte nicht mehr aus – dann wird zum Gesang, zum Mikrofon und dem Loop Pedal gegriffen. Thalmanns Wandelbarkeit wird noch bewusster, wenn man daran denkt, dass er derzeit auch am Volkstheater als hasserfüllter Nazi in Christian Stückls „Lichtspiel“ zu sehen ist.
Thalmann ist „eigentlich“ die einzige Besetzung an diesem Abend, aber dieses Wort darf gerne in Anführungszeichen stehen, denn auch die Zuschauer*innen kommen zu Wort. Vor Beginn der Aufführung geht er auf bestimmte Publikumsmitglieder zu und fragt nach ihrer Mithilfe. Während der ein oder andere etwas zuckt, zeigt sich bei manchen schon bald unerwartet theatralisches Können. Neben Oskar werden alle Rollen durch sie übernommen – auch während des Stücks fragt Thalmann mit Zetteln in der Hand nett nach Beihilfe und bietet dabei immer einen Tee an. Vorlesen muss nur, wer möchte, denn auch das reine Zuschauen macht Spaß.
Der immersive Ansatz von Jescheck und Tataz scheint schlüssig, es handelt sich schließlich nicht nur im Falle der Ereignisse des 11. Septembers um einen kollektiven Verlust – der genau deshalb einen gemeinschaftlichen Umgang braucht. Im Theater können Möglichkeiten für diesen Umgang erkundet, hierarchische Grenzen aufgeweicht und so Gemeinschaft denkbar gemacht werden. Der Begriff des Trauerspiels erhält hier völlig neue Bedeutungen.
In der Auseinandersetzung mit Abschieden und Trauer ist es nur allzu leicht, einander den Rücken zuzukehren und in der Einsamkeit zu verharren. Und doch kann Erinnerung auch als Chance funktionieren, als Möglichkeit zur Begegnung – das zeigt sich in der Kulturbühne Spagat. Oskar geht auf die Menschen zu, tritt in die Stadt und ihre vielen Geschichten hinein – die sich trotz mancher Enden immer weiterspinnen. Diese Begegnungen vermitteln Hoffnung in dunklen Zeiten und auch wir werden am Premierenabend mit einem derzeit bitter nötigem Optimismus und (so viel sei verraten) einem kleinen Geschenk entlassen.
„Extrem laut und unglaublich nah“ ist noch vom 21. bis 29. November auf der Kulturbühne Spagat zu sehen. Auch im März 2025 wird es erneut gespielt. Weitere Informationen: https://www.kulturbuehne-spagat.de/veranstaltungen/extrem-laut-und-unglaublich-nah/2024-11-21-1930.