Filmreihe

„Die leisen und die großen Töne“ – Wenn Erfolg auf Herkunft trifft

Nach “Ein Triumph” (2020) bringt Regisseur Emmanuel Courcol nun eine Komödie über zwei musikalische Brüder ins Kino. „Die leisen und die großen Töne“ überzeugt mit einer unkonventionellen Dramaturgie und klarer Haltung.

Von Maria Wabra; Bild: © Neue Visionen

Als ihn eine Leukämiediagnose zur Suche nach einem Knochenmarkspender zwingt, erfährt Stardirigent Thibaut (Benjamin Lavernhe) nicht nur, dass er als Kind adoptiert wurde, sondern auch, dass er einen kleinen Bruder hat. Jimmy (Pierre Lottin), der als Küchenhelfer auf dem Land arbeitet, ist seine letzte Chance auf Genesung. Als die ungleichen Brüder sich besser kennenlernen, entdecken sie schnell ihre gemeinsame Leidenschaft für Musik.  

Was im Abriss daherkommt wie ein schmalziger Familienfilm zur Weihnachtszeit, entpuppt sich als eine kurzweilig erzählte Sozialkomödie über den Schnittpunkt zweier Lebenslinien, die kaum unterschiedlicher hätten verlaufen können. 

Thibaut, aufgewachsen in einer Villensiedlung der Pariser Vorstadt, spielt seit seinem dritten Lebensjahr Klavier und ist als Dirigent auf internationaler Bühne gefragt. Jimmy ist musikalisch nicht minder begabt, hat ein absolutes Gehör. Weit gebracht hat es ihn nicht: Er ist in bescheidenen Verhältnissen auf dem Land groß geworden und spielt Posaune in der örtlichen Blaskapelle. 

Anders als man vielleicht vermuten würde, geht es im Film nicht darum, dass ein reicher Schnösel einen Proleten davon überzeugen muss, ihm das Leben zu retten. Im Gegenteil: Für Jimmy ist recht schnell klar, dass er Spender sein möchte; die eigentliche Handlung setzt nach geglückter Transplantation ein. Später ist es Thibaut, der halb aus Dankbarkeit, halb aus Neugier die Nähe zu seinem Bruder sucht. 

Die Stadt verlassen

Zunächst skeptisch gegenüber dem neu entdeckten Familienmitglied, bittet Jimmy ihn schließlich um einen Gefallen: Thibaut soll die Musiker der Blaskapelle auf einen Wettbewerb vorbereiten. Der stimmt zu und tauscht daraufhin sein mondänes Pariser Leben gegen das backsteingemauerte Walincourt. Hier im belgischen Grenzland zieren Tiffany-Lampen und Wandteppiche die Innenräume, gemeinsam kämpft man gegen den Verlust von Arbeitsplätzen in der Region.

Diese politische Note gehört sicher zu den Stärken der Geschichte. Courcol scheut sich nicht, seine Figuren im Spannungsfeld eines gespaltenen Frankreichs zu platzieren. Der eine stammt aus der städtischen Oberschicht, der andere aus dem streikenden Arbeitermilieu. Als die Gewerkschaftskapelle Thibaut zum Dank für seine Hilfe einen Bergmannshelm aufsetzt, murmelt er beunruhigt, man möge die Fotos bitte nicht ins Internet stellen. Sie könnten ihn einige Engagements kosten. 

Der Mensch als Produkt seiner Umwelt

Und auch Jimmy betritt Neuland: Ermutigt vom Zuspruch seines Bruders schöpft er Hoffnung, es mit der Musik weit bringen zu können. Doch die Hürden sind hoch – hoch wie die Wand, hinter der er für die Posaunenstelle im nächstgelegenen Orchester vorspielt. Die Jury schickt ihn schon nach wenigen Takten nach Hause, und Thibaut gibt ihm schmerzhaft zu verstehen, dass er zwar begabt ist, es für eine Karriere als Profimusiker aber eben zu spät. 

Anhand der unterschiedlichen Positionierung der Brüder als Musiker wird deutlich, dass beruflicher Erfolg weniger von persönlichem Einsatz als von glücklichen Lebensumständen abhängt: Der Mensch als Produkt seiner Umwelt. Weil sich für diese fundamentale Ungerechtigkeit in 103 Minuten kein Schuldiger ausfindig machen lässt, beleuchtet der Film weniger das “Warum” als das “Was wäre, wenn”. In Gesprächen philosophieren Thibaut und Jimmy darüber, wie ein gemeinsames Leben hätte aussehen können, wäre man zusammen in Paris oder eben in Walincourt aufgewachsen. Courcol erzählt das mit feinem Humor und hervorragender Besetzung: Lavernhe („Birnenkuchen mit Lavendel“) als humorvoller Sympath, Lottin („Ein Triumph”) als stiller Skeptiker mit ewiger Stirnfalte. 

Bei aller Sozialkritik scheint es jedoch primär um die Musik, nein, um das Musizieren, zu gehen. Es fungiert als Mittler zwischen den Welten. Dem wird nicht nur akustisch Raum gegeben, was im Kontrast zu einem ansonsten recht stillen Film steht, sondern es wird auch von der Bildsprache getragen: In sorgsam choreografierten Nahaufnahmen wird erzählt, wie unter der Anleitung eines Dirigenten aus kleinen Teilen ein Ganzes werden kann – in der Philharmonie wie in der Blaskapelle. 

“Die leisen und die großen Töne” kam am 26. Dezember 2024 in die deutschen Kinos und wird von Neue Visionen vertrieben. Der Film gewann Publikumspreise in San Sebastián und beim Fünf Seen Filmfestival. 

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