Im Oktober ermordete ein Mann zwei 19-jährige Frauen in der Türkei. Die Gewalttat und ihre Hintergründe lösten Massenproteste im gesamten Land aus, bei denen sich Frauen gegen die lang anhaltende Tradition von Frauenmorden wehrten.
Von Zeynep Polat; Bilder: © Helin Günes
Als ich das erste Mal von Frauenmorden hörte, war ich elf. Es war früh am Morgen, die erste Schulstunde hatte noch nicht begonnen. Ich erinnere mich daran, wie ich mich an die warme Heizung lehnte, während wir mit meinen Klassenkameradinnen aus dem Fenster in den Schulhof schauten. Schülerinnen liefen mit ihren Rucksäcken zu ihren Klassen und meine Freundin erklärte mir, wieso alle schwarz angezogen waren.
Özgecan Aslan
Özgecan Aslan wurde am 11. Februar 2015 ermordet. Eine Welle an Demonstrationen erschütterte die Türkei – das ganze Land war schockiert von der Gewalttat. Die 19-jährige Studentin hatte nur Bus fahren wollen. Heute wissen alle meine Freundinnen ihren Namen, können ihr Gesicht auf Fotos erkennen. Die Tat und der Zustand, in dem sie aufgefunden wurde, sind tief in unserem Gedächtnis verankert. Für viele Frauen in meiner Generation war Özgecans Ermordung die erste Begegnung mit der bitteren Realität der Frauen in der Türkei – zum ersten Mal erkannten wir, wie leicht es war, uns zu ermorden.
Die Proteste wehrten sich gegen das Stillschweigen der türkischen Regierung angesichts steigender Gewalt gegen Frauen. Frauenorganisationen forderten die Einführung des „Özgecan Gesetz“. Demnach sollten Straftäter, die aufgrund von Gewalttaten gegen Frauen im Gefängnis waren, keinen Anspruch auf Strafmilderung wegen guter Führung haben. Die Petition für die Einführung des Gesetzes wurde zur meist unterzeichneten in der türkischen Geschichte. Oppositionelle Parteien brachten den Antrag ins Parlament. Er wurde abgelehnt.
Immerhin sprach sich der türkische Präsident unterstützend für Aslan aus und gab zu, dass „Femizide die blutende Wunde unseres Landes“ seien. Diese Aussage kam kurz nach seiner Kritik an den Frauenprotesten, die angesichts der Ermordung laut wurden. Er forderte die Protestierenden auf, stattdessen zu beten, dies sei in der türkischen Kultur angebrachter.
Ikbal Uzuner und Ayşenur Halil
Neun Jahre später ermordete der 19-jährige Semih Celik zwei 19-jährige Frauen. Am 4. Oktober tötete er zunächst Ayşenur Halil in seiner Wohnung in Istanbul. 30 Minuten später zwang er seine ehemalige Klassenkameradin Ikbal Uzuner auf die historische Theodosianische Mauer im Stadtteil Fatih zu steigen und enthauptete sie, bevor er sich selbst in den Tod stürzte. Dieses Mal sprach der türkische Präsident nicht mehr von Frauenmorden – er gab die Schuld den sozialen Medien und „moderner Popkultur“. Im Zeitraum zwischen den beiden Gewalttaten war die Türkei aus der „Istanbul Konvention“ ausgetreten, seit 2017 hatte die Zahl der verdächtigen Todesfälle von Frauen um 82 Prozent zugenommen.
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen via traditioneller Medienkanäle war nicht möglich, da die türkische Regierung nach den heftigen Reaktionen die Berichterstattung zu dem Thema verbot. Angesichts der eingeschränkten Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit mussten sich türkische Frauen an soziale Netzwerke wie X, TikTok und Instagram wenden. Frauen in und außerhalb der Türkei forderten unter dem Ruf „Global Call for Turkey“ die internationale Gemeinschaft auf, auf die Situation der Frauenrechte in der Türkei aufmerksam zu machen. Informationen zu den Hintergründen der Morde verbreiteten sich schnell auf der Plattform X, welche in der Türkei in den letzten Jahren mehrmals verboten worden ist.
Es kursierte ein Video des Täters vom vergangenen Jahr, in dem er seine Absicht, Ikbal zu ermorden, ausdrückte und ausführlich beschrieb, wie er es tun würde. Es stellte sich heraus, dass Ikbal die Schule aufgrund der konstanten Belästigung ihres Klassenkameraden hatte verlassen müssen. Beschwerden bei der Polizei hätten nichts bewirkt, berichtete ihr Vater.
Frauenrechte in der Türkei
Die Hintergründe des Falles weisen auf die systematische Unterdrückung von Frauen in der Türkei hin. Unter Erdogans Regierung trat die Türkei 2021 aus dem internationalen Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen („Istanbul Konvention“) aus. Die Konvention verpflichtet Vertragsstaaten, Frauen vor Gewalt und Diskriminierung zu schützen und Verletzungen gegen Frauenrechte zu verfolgen. Erdogans Regierung begründete den Austritt damit, dass die Konvention Homosexualität fördere und nicht den türkischen Familienwerten entspreche.
Mit Parolen wie „Femizide sind politisch“ und „Der Staat schützt, die Männer morden“ weisen tausende Frauen nun auf die realen Auswirkungen hin, die aus dieser Entscheidung folgen. Im Jahr 2023 berichtete die Frauenrechtsorganisation „We Will Stop Femicide“ von 313 Femiziden – 2021 waren es 280. In der Kritik steht auch die Straflosigkeit der Gewaltverbrecher*innen in der Türkei – besonders seit dem Putschversuch im Jahr 2016 stehen bei der Strafverfolgung vor allem Oppositionelle im Vordergrund. In manchen Fällen kommen Gewalttäter*innen aufgrund des Platzmangels ziemlich schnell frei.
2024 sieht es noch schlimmer aus: „We Will Stop Femicide“ berichtet seit Jahresbeginn von 343 Femiziden in der Türkei. Allein im Oktober wurden 48 Frauen ermordet.
Angst als konstanter Begleiter
Am Abend nach dem Mord an den zwei 19-Jährigen ruft mich eine Freundin an. Das Thema unseres Gespräches ist sofort klar. Ich bitte sie, mir die Nachrichten vorzulesen – ich habe Angst, auf das Video zu stoßen, das durch die sozialen Medien kursiert. „Hast du gehört?“, fragt sie mich. „Schülerinnen gehen wieder in Schwarz gekleidet in die Schule.“
Nachts denke ich an die Elfjährigen, die in ihren Klassenzimmern von Frauenmorden erfahren werden. Vielleicht sitzen sie auch am Esstisch oder vor dem Fernseher. Vielleicht haben ihre Mütter sie schon ermahnt, auf sich aufzupassen – wie genau sie das schaffen sollen, wissen sie nicht. Ich denke an die Elfjährigen, die sich für immer an den Moment erinnern werden, an dem sie die Angst ihrer Mutter endlich verstehen konnten. Sie werden immer wieder an Aysenur und Ikbal denken, werden ihre Gesichter auf Bildern erkennen, werden sie bei ihren Vornamen nennen, als wären sie ihre Schwestern.
Heute zähle ich immer noch die Männer, wenn ich nachts in den Bus steige. Wie viele Frauen sitzen in meiner Nähe? Meine Mutter schaut auf meinen Standort auf ihrem Handy und schreibt mir Nachrichten.
Wie lange brauchst du noch nach Hause?
Ich sage dir doch, du sollst nicht so lange draußen bleiben.
Wie viele Menschen sind im Bus?
Wie viele Männer?
Das Titelbild zeigt einen Protest an einer Universität in der türkischen Hauptstadt Ankara.