Filmreihe

„Anora“ – Absurd ist das neue gut

Prostituierte trifft reichen Mann und sie heiraten – klingt nach einer furchtbar langweiligen Prämisse. Doch dem Regisseur Sean Baker gelingt es in „Anora“ daraus einen absurden und tragischen Film zu machen.

Von Jonas Hey; Bild: © Universal Pictures Germany.

Anora, genannt Ani (Mikey Madison), arbeitet in einem hochklassigen Stripclub, wo sie gekonnt Männer anspricht und Lapdances und Strips abliefert. In rotes Licht getaucht kommt eine erotische Atmosphäre auf, die immer wieder durch die flapsigen Sprüche der Prostituierten durchbrochen wird. Doch dann begegnet ihr der Russe Iwan (Mark Ejdelschtejn), der als Volljähriger glaubt erwachsen zu sein, aber noch ein Junge ist. Die beiden haben Sex und eine Beziehung entsteht. Doch kann diese trotz der Unterschiede bestehen?

Sean Baker ist ein Multitalent

Laut einer Datenanalyse von Follows ist die Anzahl der Sex-Szenen in Blockbustern von 2000 bis 2023 von 80 auf 50 Prozent gesunken. Nicht nur diesem Trend folgt Sean Baker nicht. Bereits in seinen letzten Filmen beschäftigte er sich mit Prostitution, in „Red Rocket“ von 2021 ging es um einen alternden Pornostar mit Geldproblemen. Über die Jahre hat er mit seinen Produzenten Alex Coco und Samantha Quan viele Geschichten von Prostituierten gesammelt, um sich besser in diese einfühlen zu können. Zudem ist Baker eine klassischer Autorenfilmer: Er hat das Drehbuch geschrieben, Regie geführt, mitproduziert und am Ende den Schnitt verantwortet. Dieser Film ist sein Werk und nach fünf Oscars kann man sicher von einem Meisterwerk sprechen.

Nach einigen Treffen im Club lädt Iwan Ani zu sich Hause ein. Hinter einer Auffahrt taucht ein riesiges Stadthaus auf und Ani staunt nach dem Hallo direkt über die Aussicht auf die Hudson Bay von Brooklyn. Nach mehreren Runden Sex offenbart Iwan, dass sein Vater ein russischer Oligarch ist und dass das Haus seinen Eltern gehört. Wie Madison ihren Körper im Film zeigt, ist wahrlich einzigartig: Sie zieht blank, ohne mit der Wimper zu zucken, sie strippt und liegt leicht bekleidet im Bett. Diese Leistung scheint ihr leicht von der Hand zu gehen, sie wirkt, als sei dies ganz natürlich für sie. Allgemein lebt der Film von ihrer Ausstrahlung.

Nach einigen Tagen kommt Iwan auf die Idee, Ani könnte für eine Woche seine Freundin spielen, natürlich für einen Haufen Geld. Doch in dieser Woche scheint die Linie zwischen Arbeit und Beziehung zu verschwimmen. Die beiden feiern ausgelassen mit russischen Freunden und fahren schließlich nach Las Vegas. Betrunken schlägt Iwan vor zu heiraten, damit er nicht mehr nach Russland zu seinen Eltern zurückkehren muss. Ani nimmt dies selbstbewusst an, während Iwan sich von seinen Impulsen leiten lässt und anscheinend nur seine Lust befriedigen will. Ob Ani allein auf das Geld schielt oder auch Gefühle für Iwan entwickelt, bleibt den Film über unklar.

Absurde Wende

Bis hierhin hat man eine leichte Romanze gesehen, die sich nicht weiter von anderen Liebesfilmen abhebt. Doch die Harmonie kann nicht ewig halten und so erfährt Toros (Karren Karagulian), ein Vertrauter der Familie, von der Spontanhochzeit und schickt die Schläger Igor (Juri Borissow) und Garnick (Watsche Towmasjan), um in der Villa nach dem Rechten zu sehen. Hier offenbart der Film seine wahre Genialität. Auch zuvor gibt es witzige Szenen, doch nun entstehen die absurdesten Situationen. So klemmt Iwan, das Knie von Garnick in der Eingangstür ein. Bereits während des Streites werden die wildesten Beleidigungen ausgestoßen, was ebenso wie die Nacktheit zuvor erfrischend in sonst so zensierten Filmen wirkt. Gefühlt schreien sich die Charaktere nur noch an, bis Iwan schließlich flieht.

Garnick will hinterher und befiehlt dem tumben Igor, Ani festzuhalten. Doch anstelle sich mit ihr zu unterhalten, bricht ein Kampf aus: Teure Vasen gehen zu Bruch, ein Leuchter fliegt durch den Raum und am Ende fesselt Igor Ani mit dem Telefonkabel. Baker hat seine Charaktere fein ausgearbeitet und treibt sie stets an die Grenze zur Absurdität, die er aber zur Lächerlichkeit nicht überschreitet. Mit Oberlakai Toros kehrt auch die Ernsthaftigkeit in die Szenerie zurück. So erklärt er, dass sie Iwan unbedingt finden müssen, sonst würden Iwans Eltern ihn umbringen. Gegen eine Zahlung von 10.000 Euro ist auch Ani bereit mitzuhelfen

Suchen und Finden

Man sollte meinen, dass es unter diesen Vorzeichen nun ernster zur Sache geht. Die ungleiche Truppe hetzt von einer Bar zur nächsten und gerade Toros schafft durch seine Eile wieder absurde Situationen: Er rastet aus, als Garnick in das Auto seiner Frau kotzt, nimmt einem Kellner das Handy weg und schließlich wird das Auto noch beinahe abgeschleppt. Doch am Ende gelingt es, Iwan zu finden und am Flughafen trifft die Gruppe auf seine Eltern. Indessen entspinnt sich doch noch ein Drama, da die Ehe annulliert wird und Iwan seiner Mutter gegenüber zugibt, Ani sei nur ein „Callgirl“. Nach weiteren Wirrungen endet der Film mit einer Herzschmerz-Szene im Auto, die aber doch die Zukunft offenlässt.

Der Film regt sicher zum Nachdenken über ein Gewerbe zwischen Geld und Liebe an. Doch zugleich ist der Film wahnsinnig stereotyp. Jede der Figuren erfüllt ihr eigenes Vorurteil: Ani die hübsche Prostituierte, Iwan der verwöhnte Oligarchensohn, Igor der tumbe Schläger und Iwans arrogante Mutter. Man fragt sich, was diesen Film innovativ macht und von anderen abhebt. Neben den erwähnten Faktoren ist „Anora“ ungewöhnlich billig. Nicht in seinem Aussehen, sondern seiner Entstehung. Der Film hat nur unglaubliche 6 Millionen Euro gekostet; dagegen kosten die meisten Hollywoodproduktionen heute über 100 Millionen. Das und der Mut von Darstellern und Produktion macht „Anora“ zu einem Meisterwerk. Mikey Madison und Sean Baker sind gekommen, um zu bleiben.

Der Film kam am 31. Oktober 2024 in die deutschen Kinos und gewann bei den Oscars 2025 in den Kategorien Bester Film, Beste Hauptdarstellerin, Beste Regie, Bestes Originaldrehbuch und Bester Schnitt.

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