Ein Einblick in die neuste Ausgabe der philtrat: Margit Kollmer, Häusärztin und Aktivistin bei Doctors for Choice, beleuchtet im Interview die prekäre Versorungslage der Abtreibungsmedizin in Bayern.
Das Gespräch führte Anna Leutschaft; Foto: Fotodesign Märzinger
Frau Kollmer, Sie sind Hausärztin im Landkreis Landshut und Aktivistin im Verein Doctors for Choice. Wie sind Sie in Kontakt mit der Abtreibungsmedizin gekommen?
Margit Kollmer: Bis vor etwa zwei Jahren hatte ich noch keinen wirklichen Bezug zu Schwangerschaftsabbrüchen. Erst durch meine Mitgliedschaft im bundesweiten Forum Hausärztinnen des Deutschen Hausärzteverbandes und eine Informationskampagne von der Berliner Gynäkologin Jana Maeffert wurde ich auf das Thema aufmerksam. Sie hat uns damals in einem Workshop das irische Modell erklärt. In Irland führen seit 2019 neben gynäkologischen auch allgemeinmedizinische Praxen das Verfahren des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs durch. Daraufhin hat sich die Versorgungslage für die irischen Frauen stark verbessert.
Gab es dazu noch eine weitere Motivation, sich für die feministische Medizin einzusetzen?
Feministische Medizin? Für mich ist es keine Frage des Feminismus, sondern der Menschenwürde, des Gebotes der Gleichbehandlung und des Anspruches auf medizinische Hilfe. Dadurch, dass die Situation in Bayern so prekär ist, habe ich mich besonders verpflichtet gefühlt. In ganz Niederbayern gab es bis dato nur eine einzige Anlaufstelle für Schwangerschaftsabbrüche. In dieser Praxis werden aber nur operative Schwangerschaftsabbrüche bis zur 10. Woche angeboten. Seit August 2023 gibt es nun mit meiner Praxis eine zweite Anlaufstelle. Zusammen mit meinem Team habe ich beschlossen, medikamentöse Abbrüche durchzuführen.
Inwiefern nehmen Sie und Ihr Team den Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch wahr, dieser schreibt dem Abbruch Strafbarkeit zu – würde eine Streichung dieses Gesetzes Ihre Arbeit entlasten?
Naja. Auf der einen Seite wird der Paragraph als ein gelungener Kompromiss beschrieben, der seit 30 Jahren einen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland ermöglicht. Auf der anderen Seite fühle ich mich so, als ob ich mit einem Bein im Gefängnis stehen würde, weil die Abbrüche eben nur unter bestimmten Bedingungen straffrei bleiben. Dieser Verortung im Strafrecht haftet eine negative gesellschaftliche und politische Wertung an. Das gilt auch für die betroffenen Patient*innen. Eine Regelung des Schwangerschaftsabbruches außerhalb des Strafgesetzbuches kann die Versorgungslage definitiv verbessern. Damit würde sich Deutschland auch mehr an die Empfehlungen der WHO und internationale Standards angleichen.
Auch die Aufhebung des Informationsverbotes durch die Streichung des Paragrafen 219a im Jahr 2022 hat die Stigmatisierung bis heute nicht beheben können. Viele Ärzt*innen wagen es noch nicht, ihr Angebot öffentlich zu kommunizieren.
Genau. In unserer Praxis haben wir viele katholische Patient*innen, die wir nicht verprellen wollen. Auch informieren wir nicht öffentlich, damit wir uns nicht mit Protestaktionen von Abtreibungsgegner*innen auseinandersetzen müssen. Leider ist das nötig. Vor allem wegen sogenannter Gehsteigbelästigungen, die vor Abtreibungsstellen durchgeführt werden. Wir hatten deswegen noch keine Probleme, eben weil wir nicht öffentlich auffindbar sind.
Haben sie bereits strafgesetzliche Konsequenzen erfahren müssen?
Nein, denn ich halte mich penibel an alle Vorschriften. Das ist aufwändig und kompliziert, aber unabdingbar! Es gibt beim medikamentösen Verfahren aber eine weitere gesetzliche Hürde: ich darf die notwendigen Medikamente nur über den sogenannten Sondervertriebsweg beziehen. Dieser ist im Arzneimittelgesetz (Paragraf 47a) geregelt. Also ein weiterer juristischer Fallstrick, der den Alltag beschwert. Einmal ist eine unserer Bestellungen auf dem Versandweg verloren gegangen, weswegen die Kriminalpolizei eingeschaltet wurde.
Welche Rolle spielt die universitäre Ausbildung in der Aufrechterhaltung einer ablehnenden gesellschaftlichen Haltung gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen in Bayern? Wie normativ selbst ist das Studium gestaltet?
Das ist sicherlich unterschiedlich. Lehrpersonen sind teilweise aktiv in der Lebensschutzbewegung. Im Studium selbst wird das Thema oft nur oberflächlich abgehandelt. Die wesentlichen Inhalte bekommt man in der Weiterbildung zum Facharzt vermittelt. Doch Studien besagen, dass man während seiner Weiterbildungsassistenz von fünf Jahren in der Klinik nicht in Kontakt mit Schwangerschaftsabbrüchen kommt. Wie soll man das in der Klinik auch lernen, wenn kein Arzt dort Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsregel durchführt?
Ein weiterer Bestandteil im Prozess der Abtreibungsabwicklung ist die Beratung. Wie stehen Sie der Pflichtberatung gegenüber? Ist diese nicht auch mit einem hohen Leidensdruck verbunden?
Wenn schon Pflichtberatung, dann sollten alle Schwangeren ein Pflichtgespräch erhalten! Eine Pflichtberatung vor einem Abbruch stellt eine Bevormundung dar und ist eine Zugangshürde. Ich muss erst mal einen Termin bekommen, den dann wahrnehmen und dann noch drei Tage warten, bis der Abbruch stattfinden darf, das ist für manche ein relevanter Zeitverlust. Daten aus Kanada belegen, dass eine Abschaffung der Beratungspflicht zu keinem Anstieg von Abbrüchen geführt hat.
Wie wirken die Patient*innen auf Sie, in Hinsicht darauf, dass das Thema Beratungspflicht immer weiter polarisiert wird?
Die Beratungsstellen sind aus meiner Sicht ein wertfreier Raum, die Patient*innen scheinen nicht dadurch verunsichert zu werden. Die Berichte über die Beratungsgespräche waren bisher durchgehend positiv, auch wenn die ein oder andere ungewollt Schwangere es als Zwang erlebt hat, mit einer fremden Person über intime Dinge zu reden. Junge und differenziert denkende Frauen haben sich häufig sehr umfassend im Internet über den Schwangerschaftsabbruch informiert. Wenn dann der Termin bei mir in der Praxis ansteht, steht die Entscheidung zur Abtreibung bereits fest.
Während der Pandemie wurde gehäuft auf telemedizinische Angebote umgestellt. Hat das einen bemerkbaren Unterschied in der Behandlung zur Folge für die Betroffenen?
Nein, ich denke nicht. Der telemedizinische Abbruch ist auf alle Fälle eine Möglichkeit, die Situation zu verbessern. Besonders an Orten, in denen die Versorgungslage nicht garantiert werden kann. In diesem Kontext möchte ich noch auf Women on Web hinweisen. Über diese gemeinnützige Organisation kann man sich Abtreibungspillen zuschicken lassen. Dieses Angebot ist vor allem in den Ländern wichtig, in denen ein Schwangerschaftsabbruch quasi illegal ist, zum Beispiel Polen.
Im Vergleich zu Berlin und Hamburg sind wir in Bayern am schlechtesten versorgt. Welche Agenda verfolgt das Bündnis Doctors for Choice mit konkreten Änderungsvorschlägen?
Meine Utopie für die Zukunft ist, dass jede ungewollt schwangere Frau in Deutschland in ihrem Landkreis oder in ihrer Stadt einen Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch erhält. Dabei sollte sie idealerweise die Vorgehensweise auswählen dürfen. Auch wenn der Schwangerschaftsabbruch fachspezifisch in das Gebiet der Gynäkologie gehört, sollen bzw. müssten Versorgungslücken anders geschlossen werden, wenn sich in einer Region keine Gynäkolog*innen dafür finden. Eine Patientin von mir ist sage und schreibe 166 km zu mir angereist. Das finde ich unzumutbar. Deswegen halte ich es für denkbar, dass Hausärzt*innen die bestehenden Versorgungslücken schließen bzw. verringern. So wie in Irland. Wenn beide, gynäkologische und hausärztliche Praxen, gemeinsame Konzepte entwickeln, könnte das gelingen!
Diesen und weitere Texte findet ihr in unserer 34. Ausgabe, die vom 8. bis 12. Juli 2024, jeweils von 10 bis 18 Uhr, in der Schellingstraße 3, München verkauft wird. Preis: 1 EUR